Auf der Flucht!
Victor Frankl, ein bekannter Neurologe und Psychologe, war viele Jahre im Konzentrationslager gefangen. Seine Familie wurde nach und nach getötet, er selbst wurde schwer gefoltert und war öfters dem Tode nahe. Da hatte er plötzlich eine Erkenntnis. Er sagte sich: „Niemand außer mir hat die Macht über meine innere Einstellung. Man kann mich schlagen, man kann meine Familie hinrichten, aber meine Gedanken gehören mir. Wenn ich unter diesen extremen Bedienungen, meine Identität und meinen Charakter behalten kann, dann können das auch andere Menschen.“ Er fasste seine Beobachtungen in einem Satz zusammen:
„Die letzte aller menschlichen Freiheiten ist die, seine Einstellung in jeder gegebenen Situation selbst zu wählen.“
Ich kann nur hoffen, dass auch jene Menschen, die ihr gesamtes Leben, manche sogar ihre eigene Familie zurück lassen mussten, nur um einen winzigen Hoffnungsschimmer zu folgen, auch so stark sind und sich dessen bewusst sind, dass sie ihre innere Einstellung in jeder Situation, die noch auf sie zukommen wird, selbst wählen können.
In den letzten Tagen und Wochen gehen Bilder um die Welt, Bilder die, obwohl sie hier im eigenen Land passieren, doch so weit weg sind. Man hört Geschichten, die uns völlig irreal erscheinen. Denn kämen wir je auf die Idee, wir müssten uns für eines unserer Kinder entscheiden? Wenn man genau weiß, es hat nur ein Kind von vier Kindern die Chance, da man nur eine Rettungsweste hat, für wen entscheidet man sich? Für mich unvorstellbar. Alleine schon der Gedanke daran, treibt mir die Tränen in die Augen.
Kinder, die in den Schulen ihren neuen Mitschülern davon erzählen, wie sie mit dem Boot übers Mittelmeer gefahren sind, ohne zu wissen, was da jetzt eigentlich passiert. Man nimmt nur das Weinen von Kindern und auch Erwachsenen, das Beten und die Verzweiflung wahr.
Und dennoch fällt es manchen Menschen immer noch schwer, das, was gerade jetzt in unserem Land passiert, so hinzunehmen wie es ist, die Menschen zu akzeptieren, oder einfach nur zu helfen. Einerseits auch irgendwie verständlich: wir haben uns in den letzten Jahrzehnten so viel aufgebaut, weiterentwickelt und uns einen Lebensstandard geschaffen, den wir natürlich behalten und am besten noch vergrößern wollen. Wir wollen immer mehr und mehr. Wir haben alles. Und dann kommen fremde Menschen in unser Land, in unsere Stadt, in unseren Ort und dürfen den Wohlstand von uns Österreichern genießen? Ich kann diese Gedanken von den Menschen hier in Österreich alle nachvollziehen.
Aber sind wir deshalb, weil wir alles haben, immer glücklich? Wann empfinden wir eigentlich Glück? Wann feiern wir Erfolge? Was ist ein Erfolg für uns? Die Matura, die Sponsion, der Aufstieg auf die Karriereleiter, eine Gehaltserhöhung… Aber was ist mit den kleinen Fortschritten, die wir in der Vergangenheit gemacht haben? Was ist mit den millimetergroßen Schritten, in denen wir uns weiter entwickelt haben? Nehmen wir sie wirklich tatsächlich wahr? Ich denke, dass uns genau das schwer fällt. Wir arbeiten ständig auf etwas Neues hin, wollen uns noch mehr weiter entwickeln, wollen noch mehr erreichen, laufen noch mehr Zielen nach. Aber dabei vergessen wir oft auf die kleinen Erfolge, weil wir sie einfach nicht wahrgenommen haben. Wir sind uns oft unserer Möglichkeiten und Potentiale, die wir in Zukunft hätten, gar nicht bewusst, weil wir die kleinen Veränderungen, in der Vergangenheit, gar nicht bemerkt haben.
Aber was denkt sich ein Flüchtling, eine ganze Flüchtlingsfamilie, die die Grenze zu Österreich (vielleicht sogar noch zu Fuß) passiert? Ich glaube nicht, dass sie sich darüber ärgern, dass sie es noch so weit bis Deutschland haben. Wenn man in die Gesichter dieser Menschen schaut, sieht man neben Erschöpfung, Traurigkeit und Verzweiflung vor allem eines: Freude und Erleichterung. Die Mütter von Kindern können sich keine Sorgen mehr darüber machen, ob das Kind wohl genug Schlaf bekommt, ob es sein Lieblings-Kuscheltier wohl noch in der Hand hat, um einschlafen zu können, ob das Kind wohl nicht friert, ob es sich die Zähne geputzt und wohl nicht zu viel genascht hat. Nein! Sie hoffen nur, dass sie sich nicht für eines ihrer Kinder entscheiden müssen. Sie hoffen nur, dass ihre ganze Familie zusammen bleiben kann, oder wieder zusammen finden, sie hoffen nur, irgendwann wieder ein Leben aufbauen zu können, sie hoffen, lebend in einem für sie völlig fremden Land ankommen zu können. Denn in ihrem eigenen Zuhause, dort wo sie aufgewachsen sind, dort wo ihre Freunde waren, dort, wo sie vielleicht einen Job hatten, dort, wo sie sich vielleicht gerade neu verliebt hatten, dort, wo sie ihren Kindern ein gutes Leben bieten wollten, dort, wo sie ohne zu überlegen, einkaufen gegangen sind, dort, wo die Kinder auf Spielplätzen gespielt haben, dort, wo ihre Betten sind, dort, wo sie ein Dach über den Kopf hatten… Nein… sie haben ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Sie mussten gehen, sonst wären sie vermutlich nicht mehr am Leben. Die einzige Verbindung zu ihrer Heimat ist vielleicht noch ihr Smartphone. Ich hoffe, dass die meisten von ihnen noch die Möglichkeiten hatten, dieses noch vor ihrer Flucht einzupacken. So können sie vielleicht doch noch irgendwie Kontakt halten zu ihrer großen Liebe, zu ihrer Mama, ihrem Papa, ihren Geschwistern, Freunden. Gäbe es das nicht, wären sie vollkommen verloren. Dieses kleine Telefon ermöglicht ihnen, ein kleines Stück ihrer Heimat mitzutragen. Vielleicht haben sie dort Bilder von ihren Familien gespeichert, Bilder von ihrem Haus, das, auch wenn sie wieder zurückkommen, wahrscheinlich nicht mehr da sein wird. Vielleicht haben sie dort Bilder von ihrer Hochzeit gespeichert, oder einfach Bilder von ihren Eltern, die sie vielleicht nie wieder sehen werden. Wir wissen nicht, was ihnen noch geblieben ist. Wir können nur hoffen, dass ihnen bewusst wird, dass, auch wenn sie noch so viel Leid erfahren müssen, ihre Gedanken, ihre innere Einstellung, ganz allein ihnen gehören. Die kann ihnen niemand wegnehmen, wie Viktor Frankl uns gelehrt hat.
Alles Liebe,
Kerstin